REVIEW

CONCERTO 207, Apr/Mai 2006

Fremdartig verzückend

Antonio Maria Bononcini: Cantate »Sul margine adorato«, »Vorrei pupille belle«, »Mentre in placido sonno«, »Troppo, troppo rigore«.
Radu Marian (Sopr.), Ars Antiqua Austria, Ltg. Gunar Letzbor (Vl.). Arcana (335) 2005 (Vertrieb Helikon Harrnonia Mundi) CD

Wenn Leidenschaften noch richtige Leiden schaffen und Thanatos dem Eros auf dem Fuße folgt, dann ist das Gegenteil moderner Paartherapie allemal der Stoff, aus dem barocke Liebesalpträume sind: Man(n) will die »schönen Augen« noch einmal wiedersehen und dann sterben, hält der Grausamen die Treue, auch wenn man selbst dabei draufgeht, beschuldigt Gott Amor und füllt bis zur finalen Kadenz die klangredende Hülle des Wohlklangs mit Trauer und Melancholie. Die Kantatentexte, die Antonio Maria Bononcini im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Wien vertonte, bilden keine Ausnahme vom zeitgenössischen Schema der im arkadischen Pastoralmilieu angesiedelten Monolog- und Miniatur-Tragödie. Doch machten mindere Meister daraus ein wehleidiges oder halbironisches Geplänkel zum Divertissement der Aristokratie und ihrer eingebildeten Gefühlskultur, klingt es bei Bononcini nach ironiefreiem Ernst, der sich in der Ernsthaftigkeit der kompositorischen Faktur spiegelt.

Die Minuten der wahren Empfindung zeitigen beim jüngeren der Bononcini-Brüder eine komplexe Kontrapunktik der obligaten instrumentalen Oberstimmen (meist zwei Violinen, in »Mentre placido sonno« des hier eingespielten Kantatenquartetts zwei Blockflöten), eine reiche, dissonanzgeschärfte, chromatisch illuminierte Harmonik und eine größere Dimensionierung der Form. Die Sorgfalt der Ausarbeitung und die Ausdehnung seiner Arien übertrifft vergleichbare Produkte um Längen. Sie nimmt bereits das elaborierte Da-capo-Modell späterer Zeiten vorweg. Doch auch die Secco-Rezitative adelt eine treffliche Kunst der expressiven Deklamation, eine Intensivierung des Wortlauts und der affektiven Gehalte bis hin zur emphatischen Wiederholung von Schlüsselsätzen.

So ragen denn Antonio Maria Bononcinis Kantaten markant aus der zeitgenössischen Manufakturmassenware der Abteilung „Liebeslust und –frust“ hervor. Und sie bestätigen das Urteil Geminianis, demzufolge Antonio Bononcini seinen älteren Bruder Giovanni an »Tiefe und Wissen« bei weitem übertreffe. Dass Giovanni heute dennoch der relativ Bekanntere ist, verdankt sich dem schon im 19. Jahrhundert wohlbestellten Feld der Händel-Forschung, machte der Oberitaliener doch in London dem Deutsch-Engländer heftige Konkurrenz. Auch zu Lebzeiten verlief Antonios Karriere zunächst im Schlepptau seines Bruders: Gemeinsam kamen die Musiker aus Modena nach Stationen in Bologna und Rom um 1700 nach Wien, wo unter dem kulturell fortschrittlichen Kaiser Joseph 1. die Nachfrage nach Kammerkantaten wuchs. Wie eng die „Gebrüder Bononcini Companie“ kooperierte, zeigen wechselnde Zuschreibungen derselben Werke an den einen oder den anderen Komponisten. Allerdings sprechen die hier eingespielten Kantaten mit ihrem ausgeprägten Eigen-Sinn – etwa dem aus kurzen, gleichsam fragmentierten Melodiephrasen gefügten Seelenmosaik der Finalarie aus »Vorrei pupille belle« – gegen eine brüderlich geteilte Idiomatik. So eindrücklich, wie sich hier der kleine personalstilistisch vom großen Bruder emanzipiert, geben ihm Gunar Letzbor und seine Ars Antiqua Austria samt dem als »Stimmwunder« gefeierten Radu Marian Ausdruck. Spannungsvoll und bisweilen fast aggressiv attackierend, aber auch sensitiv und den emotionalen Erschütterungen quasi seismographisch nachspürend geht das Instrumentalspiel aufs Ganze – gemäß den Werken, die im kostümierten Schein des Pastoralidylls das Sein extremer Gemütszustände ausloten.

Was hat es nun mit dem 1977 in Moldawien geborenen Radu Marian auf sich? Das Wunder seiner bis zum dreigestrichenen c reichenden Stimme ist schlichtweg eine physiologische Anomalie, PR-Material gibt dem Sänger sogar den fürchterlichen Titel eines »endokrinologischen Kastraten«. Das suggeriert, er verfüge ohne den Eingriff des ‚gebenedeiten Messerchens’ über eine Stimme, die zumindest eine Ahnung von Farinelli oder Senesino bieten, also die Historismus-Sehnsucht nach der Wiederkehr einer verlorenen Klangwelt befriedige. Dem Ohrenschein nach kann man vor solchen klang- und geschichtsklitternden Rückprojektionen nur warnen. Marian ist der rare Fall eines männlichen Soprans, also kein Sopranist, der mit falsettierender Stimmband-Akrobatik ins hohe Register klettert. Aus besagten physiologischen Gründen scheint seine Stimme nicht mutiert zu haben, trotzdem wirkt sie registermäßig gebrochen zwischen einem knabenhaften Ton in der mittleren Lage und scharfen Spitzentönen, die freilich wie mühelos getroffen scheinen.

Der schattierende, manchmal auch nur verschattete Charakter einer quasi erwachsenen Kinderstimme, der sich feminine Nuancen beimengen, entwickelt keineswegs die sonore Kraft, wie sie historische Zeugnisse an den Stimmen der Kastraten rühmen. Gleichwohl vermittelt Marians Timbre Spurenelemente der spätbarocken Gesangsästhetik: den Sirenenton des Übernatürlichen, dem vorliegende Aufnahme mit ihrer halligen Akustik noch eine besondere Auratik verleiht. Zudem fehlt es Marians Kehle nicht an Geläufigkeit und seinem musikalischen Verstand nicht an Stilbewusstsein. Mit fein ziselierten Koloraturen, etwas unruhiger Linie, aber eleganten Portati zeichnet er ein lebendiges und anmutiges Klangbild des emotionalen Vexierspiels.

Auch wenn's nicht der originale Kastratenton ist: Marians Gesangskünste gleichen einem eigentümlichen, nicht in jeder Facette beglückenden, aber fremdartig verzückenden Gewächs im Paradiesgärtlein der Alten Musik.

Martin Mezger

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harmonia mundi magazin:06/2005

Die Stimme des Engels
Antonio Maria BONONCINI (1677-1726)
Cantate in Soprano
Radu Marian, Sopran - Ars Antiqua Austria, Leitung: Gunar Letzbor

Der l977 in Moldawien geborene Radu Marian ist ein vokales Phänomen: Er gehört zu den wenigen Sängern auf der Welt, die das Register einer männlichen Sopranstimme besitzen. Im Unterschied zu den künstlichen Stimmen von falsettierenden Sopranisten erweckt sein natürliches Timbre den Klang der Kastraten des 17. und 18. Jahrhunderts zu neuem Leben. Schon im Alter von vier Jahren zeigte Radu Marian außerordentliche musikalische Fähigkeiten, und mit sieben Jahren trat er erstmalig in Moskau in einem Konzert auf Es folgte ein Studium in den Fächern Klavier und Gesang in Moskau und Bukarest, das er mit Auszeichnung und dem Titel eines "Konzertmeisters" beendete. Danach ging er zur Vervollkommnung seiner Ausbildung nach Italien. Antonio Bononcini kam in Modena zur Welt. Seine musikalische Karriere volllzog sich jedoch in Wien am habsburgischen Kaiserhof, der am Ende des 17. Jahrhunderts eine Menge italienischer Komponisten in seinen Bann zog. Von den über hundert italienischen Kantaten, die im kaiserlichen Archiv aus der Zeit von 1699 bis 1713 erhalten sind, erwiesen sich viele als Kompositionen A.M.Bononcinis, der als Meister dieser Gattung hervortrat. Mit glanzvollen Koloraturen bieten diese Werke Radu Marian hervorragende Gelegenheiten, seine vokale Kunst voll zur Geltung zu bringen.

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CRESCENDO 04/05 2005

Antonio Maria BONONCINI (1677.1726)
Cantate in Soprano (1708) Radu Marian (sop.),
Ars Antiqua Austria, dir.: Gunar LETZBOR

Ce tres beau récital nous offre l'occasion de faire plus ample connaissance avec Antonio Maria Bononcini, incontestablement moins connu que son frère Giovanni, dans l' ombre duquel il a d' ailleurs effectué l' essentiel de sa carrière, à Bologne, à Rome et à Vienne. Excellent violoncelliste, le jeune musicien s'est également fait remarquer en tant que compositeur, notamment de Cantates profanes, un geme qui est revenu à la mode autour de 1700 à la cour des Habsbourg à Vienne. Dans ce domaine, Bononcini démontre un talent certain et un métier solide. Ses Cantates se distinguent de la producrion standard de l'époque par une remarquable qualité de facture, qui démontre un réel soin des details, par l'utilisation régulière d'instrurnents obligés qui répondent agreablement à la voix, et par une belle capacité à développer ses idees musicales au sein d' arias largement développés. Tout au long de ce programme, qui explore un seul et meme sujet (l'amour, pardi!) à travers toutes ses facettes, Radu Marian fait montre d'une belle agilité et exploite avec intelligence toutes les ressources d'un timbre plein de fraicheur juvénile. Pour autant, sa prestation évolue dans un registre expressif un peu trop étroit que pour traduire avec la meme acuité une palette de sentiments assez large. De leur coté, Gunar Letzbor et ses musiciens sont tout simplement parfaits: très présents, pleins d'énergie communicative, precis mais toujours chaleureux.
Jean-Marie Marchal

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Opernwelt 08/2005
Aus: Der Reiz des Androgynen

... Hierzulande noch völlig unbekannt ist der achtundzwanzigjährige Rumäne Radu Marian, dessen geradezu knaben-, ja mädchenhaftes Timbre bei Kantaten des Vivaldi-Zeitgenossen Antonio Maria Bononcini (1677-1726) berückend schön zur Geltung kommt. Sein hoher, heller Sopran passt wunderbar zur eleganten, sinnlichen Musik des jüngsten Sprosses der Musikerfamilie Bononcini. Marian setzt seine Stimme mit ähnlicher Technik und vergleichbarem Farbempfinden ein wie Jaroussky, doch durch die engelsgleiche, glockenklare Höhe entsteht ein ganz eigener Thrill. ...

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DIVERDI: No 137, mai 2005

Cantatas de Bononcini con un sorprendente contratenor
Letzbor el descubridor

A Gunar Letzbor el viol ín debe servirle también de varita mágica. De otra forma, sería difícil entender cómo consigue descubrir tanta buena m úsica allí donde muchos no logran sacar más que partituras menores. Es cierto que Antonio Maria Bononcini (1677-1726) no puede considerarse un desconocido, pero las cuatro cantatas para soprano de 1708 aquí presentadas (procedentes de un conjunto de trece cantatas que el músico escribió para la corte vienesa) constituyen una deliciosa sorpresa. Uno de los rasgos más Ilamativos de estas cantatas es el considerable papel desempeñado por los instrumentos, que comparten constantemente protagonismo con la cantante. En la primera aria de Sul margine adorato, se pueden admirar los deliciosos efectos de eco entre los dos violines y la soprano. El violín solo entrelaza sus líricas evoluciones con la voz en la segunda aria, mientras que la tercera resulta más compacta en su pulsación rítmica casi napolitana. La cantata Vorrei pupille belle se abre con una serie de sugestivas disonancias más bien propias dei ámbito religioso, y se cierra con una espléndida siciliana. EI bucolismo de Mentre in placido sonno, que alinea una pareja de flautas de pico, posee una envergadura haendeliana (encantadora la primera aria Un solo amplesso almeno). En la cantata Troppo, troppo rigore, el conjunto de los instrumentos alcanza una plenitud orquestal y convierte a la cantata en un pequeño concierto. Ejemplar la interpretacion de Letzbor y su Ars Antiqua Austria, con un Radu Marian agil y expresivo en el registro central, y algo más duro en el agudo.
Stefano Russomanno
ANTONIO MARIA BONONCINI (1677-1726): Cantate in soprano - 1705 (4 cantatas) / Radu Marian (soprano), Ars Antiqua Austria. Dir.: Gunar Letzbor / ARCANA A335 (1CD)

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